Seit ein paar Monaten steigt plötzlich die Nachfrage nach digitalem Graphic Recording. Jahrelang war es vielleicht eine Anfrage im Jahr, jetzt sind es schon fünf Anfragen in drei Monaten.
(Update vom 22.4.2020: mittlerweile sind 80% aller Aufträge digital. So schnell kann es gehen)
Anders als beim analogen Recording, das mittlerweile ein gewisse Routine hat, ist beim digitalen Einsatz jeder Auftrag etwas Spezielles, denn die Technik erfordert eine gute Planung. Es muss in jedem einzelnen Fall genau nach dem Einsatzzweck gefragt werden, nur dann kann man sich die optimale digitale Umsetzung überlegen. Und eine wesentliche Erfahrung habe ich schon gemacht: es ist viel anstrengender, als auf Papier zu zeichnen.

Ein Beispiel für digitales Graphic Recording
Eine klassische Leadership-Konferenz mit vielen Workshops und Aktivitäten in verschiedenen Räumen über zwei Tage. Eine fest aufgebaute Zeichenwand war wegen der vielen Ortswechsel unbrauchbar und ich schlug das digitale Recording vor.
Allerdings hatte ich nicht bedacht, dass wegen dem vielen Hin und Her auch kein normales Sitzen möglich ist. Digitales Recording im Stehen und Gehen: unmöglich. Also mußte ich zuerst mit dem Stift auf Papier, ganz analog, die Notizen im Stehen machen. Erst in den Workshop-Zeiten, in denen es für mich nichts aufzunehmen gab, habe ich mir eine ruhige Ecke gesucht und die digitale Visualisierung der Kernaussagen durchgeführt. Oder in anderen Worten: für mich gab es nie eine Pause.
Am Ende der Tagung hatte ich 15 Minuten auf der Bühne, um alle Bilder in einem unterhaltsamen Vortrag vorzustellen und die Tagungsinhalte nochmals auf humorvolle Weise zu reflektieren.
Alle Einzelbilder habe ich nach der Veranstaltung für den Kunden zu einem großen Recording zusammengesetzt. Ich arbeite also nicht wie im analogen Recording mit einer großen Arbeitsfläche, sondern setze hier das große Bild wie ein Mosaik zusammen.
Doch was sind nun meine bisherigen Erfahrung? Was sind die Vor- und was die Nachteile?


Die Vorteile beim digitalen Graphic Recording
- Da es im oben vorgestellten Beispiel nicht live war, konnte man die Aussagen pointierter zusammenfassen, allerdings war auch am Abend des ersten Tages noch viel Arbeit bis spät in die Nacht notwendig
- Wenn digitales Graphic Recording live ist, hat man mehr Möglichkeiten mit digitalen Tricks zu arbeiten, Unwichtiges kleiner zu machen und Wichtiges größer
- Bei digitalem Graphic Recording, das auch live auf einer Beamerfläche neben der Hauptpräsentation gezeigt wird, arbeite ich immer mit Einzelbildern. Also pro Einheit oder Vortrag ein Bild.
- Die Einzelbilder sind perfekt für die Präsentation und die Verwendung der im Nachgang
- Es erlaubt leichtes Reisen und erfordert keinen zeitaufwändigen Auf- und Abbau der Zeichenwand. Keine Stifte müssen gepflegt und befüllt werden. Ich arbeite hier auf einem Microsoft Surface Pro4 mit Photoshop und Illustrator. Die allermeisten Kollegen bevorzugen allerdings das iPadPro. Zu Vor- und Nachteilen beider Technologien kann ich nichts sagen.
- Fehler lassen sich verbessern
- Man hat viel mehr gestalterische Möglichkeiten und kann auch die CI perfekt nachbilden
- Das finale Großbild ist durch die flexible Möglichkeit der Gestaltung in der Regel wesentlich übersichtlicher als ein analoges Graphic Recording = großer Mehrwert

Die Nachteile beim digitalen Graphic Recording
- Der Reiz der Live-Illustration entfällt bei vielen Aufträgen: oft findet die Visualisierung im Verborgenen statt und ist erst zum Schluss sichtbar. Man wird nicht mehr als “Künstler” erkannt und angesprochen
- Wenn die Visualisierung nicht auf einer großen Projektionswand gezeigt wird, entfällt der WOW-Effekt bei der Entstehung live dabei zu sein
- Der Planungsaufwand ist insgesamt größer, da die Zeichenfläche kleiner ist
- Vollkommene Abhängigkeit von der Technik, Backup ist schwierig
- Digitales Zeichnung erfordert sehr viel Konzentration. Mehr als das analoge Recording. Technik verlangt mehr Aufmerksamkeit als der einfache Stift
- Das Schreiben ist etwas langsamer als auf Papier, auch muss man sich sehr um eine ordentliche Handschrift bemühen. Manchmal muss man sich daher nebenher noch Notizen auf Papier machen.
- Auf einer großen Papierfläche ist es einfacher ein großes Bild zu erstellen, digital verliert man hier schnell den Überblick. In der digitalen Welt muss man sich hier ein spezielles Konzept zurechtlegen, um sich nicht zu verlieren. Und wie immer: Übung macht den Meister!
- Wir die Zeichnung live gezeigt, sollten so wenige Menüpunkte wie möglich sichtbar sein. Ferne ist das übliche Hinein- und Herauszoomen beim digitalen Arbeiten für die Zuschauer störend und man sollte es vermeiden. In Photoshop läßt sich ein zweites Fenster aufmachen, das über den erweiterten Bildschirm gezeigt werden kann und nur das Bild zeigt, kein Zoomen, keine Menüs. Das beim iPad von vielen geliebte ProCreate habe ebenfalls einen speziellen Präsentations-Modus dafür.
- Das digitale Zeichnen ist langsamer. Vor allem das Schreiben erfordert viel Disziplin!

Was ist besser für die Kommunikation von wichtigen Kernbotschaften? Analog oder digital?
Diese Fragen müssten eigentlich meine Kunden beantworten. Basierend auf den bisherigen Erfahrungen muss ich gestehen: es ist eindeutig das digitale Graphic Recording, da es viel besser strukturiert werden kann. Mir fällt oft auf, dass beim Recording auf Papier nur das Gesamtbild als Illustration bewundert und wahrgenommen wird, aber man kaum die Inhalte beachtet. Oft verkommt das Zeichnen auf Papier zum künstlerischen Event und dient mehr der Unterhaltung der Teilnehmer.
Dagegen ist beim digitalen Recording die Weiterverwendung mit der digitalen Grundlage viel einfacher. Selbst Fehler oder Mißverständnisse können vor der allgemeinen Verteilung noch leicht korrigiert werden. Das Bild hat dann mehr den Stellenwert einer offiziellen Kommunikation und wird intensiver genutzt.
Wolfgang Irber


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