Marktführer haben immer das eine Problem: wie kann man Marktführer bleiben? Erfolg macht gerne träge und schnell verliert man den Kunden aus dem Blick. Das zu ändern, indem man eine Vision von oben definiert, ist nur leider selten von Erfolg gekrönt. Warum nicht den umgekehrten Weg gehen? Als CEO die Richtung vorgeben, dann in den Hintergrund treten und die Mitarbeiter selbstbestimmt aktiv werden lassen.
Von der ersten Diskussion zum ersten Entwurf
Auftakt
Für mich begann es im Sommer 2018 mit einer E-Mail aus der Schweiz. Angefragt war ein Graphic Recording einer Visions-Diskussion. Die Lokation war ein schweizerischer Erlebnisbauernhof nahe Zürich. Eingeladen waren ausgewählte Vertreter der gesamten Belegschaft, die schon in kleinen Kreisen vorgearbeitet hatten. Schnell war für mich klar: Für ein normales Graphic Recording ist der Raum zu klein, es gibt keinen Platz für meine Zeichenwand, außerdem war noch viel zu viel in der Schwebe, es wurde diskutiert, verworfen, neu vorgestellt, das alles in kleinen Gruppen, die sich auf dem Gelände verteilten. Ich musste improvisieren.
So hörte ich in diesen beiden Tagen “nur” zu und machte viele Notizen. Meine Aufgabe war es, die Ergebnisse der beiden Tage auszuwerten, zusammenzufassen und über das Wochenende einen ersten visuellen Entwurf zu gestalten, mit dem am Mittwoch an der Vision im großen Kreis weitergearbeitet werden konnte. In diesen beiden ersten Tagen hielt sich der CEO so dezent im Hintergrund, dass ich anfangs gar nicht merkte, dass er der Chef ist.


Großes Orchester
Die Mitarbeiter erstellen die Vision
Eine halbe Woche später fand das zweite Treffen in einem Hotel am Flughafen Zürich statt. Dieses Mal waren rund 50 Vertreter der Belegschaft aus der ganzen Welt anwesend. Die erste Version der visualisierten Vision wurde als gedrucktes Poster in vielen kleinen Workshop-Runden diskutiert und langsam mit zahlreichen Post-its zur finalen Vision umgearbeitet. Parallel dazu habe ich die Visualisierung auf meinem Surface in Photoshop aktualisiert und einer neuen Diskussionsrunde zur Verfügung gestellt. Ganz bewusst arbeitete ich skizzenhaft, um zu signalisieren, dass das nur ein Entwurf ist, an dem gearbeitet werden darf.

Am dritten Tag entwickelte ich ein drei Meter langes Gesamtbild, das als Bildmetapher alle wesentlichen Elemente des Visionsprozesses aufnahm: wieso brauchen wir eine neue Vision, was sind die Gefahren und wohin führt uns die Vision? Was sind unsere Werte und wie leben wir sie? Dieses Bild war zum Ende hin der Aufhänger für die Abschlussrede des CEO und zeigte nicht nur die geleistete Arbeit der Teilnehmer, sondern auch die Vision, eingebunden in eine lebendige Geschichte, die gut zu merken ist.
Die Kernaussage war: wenn wir so weitermachen wie bisher, scheitern wir wie viele andere große Firmen an der Insel der Selbstgefälligkeit. Lasst uns eine Kursänderung durchführen.

Das finale Bild
Nacharbeit und digitale Umsetzung
Wieder zu Hause war meine Arbeit noch nicht zu Ende: um die Vision über die gesamte Belegschaft weltweit und flexibel kommunizieren zu können, musste das auf Papier erstellte Abschluss-Bild digital umgesetzt und in vielen Details weiter angepasst werden. Einzelne Elemente des Bildes sollten dazu in Präsentationen verwendet werden können.
Für die Kommunikation der Visionsgeschichte im Intranet wurde eine eigene SharePoint-Seite erstellt, auf der zu jedem dargestellten Szenario im Bild auch die Erläuterung abgefragt werden konnte. Da sich die Vision und die Werte im Laufe der internen Kommunikation in kleinen Details immer wieder veränderten, war auch die Visualisierung entsprechend anzupassen. Umgesetzt wurde das Bild übrigens in Photoshop.

Solo des Chefs
Visualisierung für den CEO-Videoblog
Grau ist alle Theorie. Also hat sich der Chef zusätzlich die Mühe gemacht, einen Videoblog ins Leben zu rufen, in dem er jedes einzelne Element der Vision und der Werte noch einmal persönlich in seinen Worten vorstellt. Für diese Videos habe ich einfache Bilder gezeichnet, die seine Geschichte unterstützen und Bezug zum großen Visionsbild nehmen.

Anpassung
Die Ausformulierung der Vision, Strategie und der Werte ändert sich, so auch das Bild
In einem halben Jahr merkt man, was gut funktioniert und was nicht. Auch bei einer Visualisierung. Der Visionstext wurde verfeinert, die Strategie weiter herausgearbeitet und die Werte besser definiert. Um eben die Werte auch besser visuell kommunizieren zu können, musste das Team auf dem Schiff Handlungen ausführen, die den Werten entsprechen. Fast die gesamte Mannschaft wurde neu gezeichnet. Man kümmert sich um die Umwelt, hält den Kurs, zeigt auf die Probleme, ist fair, geht respektvoll miteinander um, hilft anderen, reflektiert das eigene Tun, ist immer offen für Neues, schaut nach vorne und geht Risiken ein. Insgesamt habe ich über die Monate das Bild laufend angepasst; immer nur in kleinen, aber in wichtigen Details, ohne das große Ganze zu verändern.


Mitarbeiter leben das Bild
Unterhaltsame Kommunikation
Zum Schluss kam die Frage auf, wie kann man die Vision auf allen Standorten so präsent werden lassen, dass sie im Gedächtnis und doch auch unterhaltsam bleibt? So kamen die Mitarbeiter auf die Idee, die weltweiten Pausenräume und Eingangsbereiche damit zu gestalten. Bisher hingen dort Mosaike aus A2-Panelen in den Firmenfarben. Die sollten jetzt von Panelen mit den Visionselementen aus dem Bild ersetzt werden. Gesagt, getan. Wichtige Teile habe ich aus dem Bild extrahiert und so umgearbeitet, daß sie auch für sich alleine stehen können. Zur Eröffnung und Einweihung wurden weltweit an einem Tag lokal kleine Events abgehalten, um die neue Raumgestaltung zu feiern. Es gab sogar kleine Kuchen, die mit Motiven aus den Panelen verziert waren.



Ausblick und Rückblick
Zusammenfassung
Ein gutes Jahr hatte ich den Prozess begleitet und es fasziniert mich, mit welcher Begeisterung die Mitarbeiter die eigene Vision entwickelt und ausgearbeitet haben, und immer noch aktiv dabei sind. Natürlich war der Weg mühsam, anstrengend und mitunter frustrierend, aber es ist eine Vision geschaffen worden, die aus der Mitte der Belegschaft kommt. Der CEO selbst hatte “nur” den Stein ins Rollen gebracht und die Gründe erläutert, warum das ausgerechnet jetzt sein muss. Er hatte die Richtung vorgegeben und dann erfolgreich delegiert. So sieht für mich erfolgreiches Empowerment in der Realität aus.
Die begleitende Visualisierungen erlaubte es, den Weg der notwendigen Veränderung auch zu sehen und dem Prozess eine visuelle Identität zu geben: wohin geht die Diskussion, was ist die Aussage? Die Bilder haben Anker gesetzt, die in der Flut an Worten und Ideen eine Orientierung erlaubten. Sie waren – um im Bild zu bleiben – wie visuelle Inseln, auf denen man geistig Rast machen konnte, bevor die anstrengende Reise der Diskussion fortgesetzt wurde.
Wäre es auch ohne Visualisierung gegangen? Wahrscheinlich schon, aber nicht so effektiv. Die Geschichte des CEO hätte sich weniger eingeprägt und das Warum wäre weniger sichtbar und präsent gewesen. Und, da bin ich mir ganz sicher, ohne die Bilder würde jetzt – wie oft üblich – ein Poster mit Text an der Wand hängen, das jeder – wie üblich – ignoriert. So aber kommen von den Mitarbeitern selbst laufend neue Ideen, wie das Bild in immer neuen Szenarien verwendet werden kann und damit die Vision am Leben gehalten wird. Die Vision wird von den Mitarbeitern gelebt.
Kann man sich als CEO, der den Stein ins Rollen gebracht hat, mehr wünschen? Das gleiche gilt auch für mich als den begleitenden Illustrator.