Herr Irber, wie sind Sie Graphic Recorder geworden?

Bereits in meiner Zeit als Trainer in der Telekommunikation (2000-2009) hatte ich begonnen, komplexe Zusammenhänge auf großen Whiteboards zu visualisieren. Schon damals erahnte ich das Potential, aber ich hatte noch nicht daran gedacht, es auch für die Selbständigkeit zu nutzen. Später im Jahr 2010, im ersten Jahr meiner Selbständigkeit als Illustrator, stolperte ich über einen Artikel in der Financial Times Deutschland zu Graphic Recording und dachte mir: “Genau, das ist es! Das ist es, was ich immer gemacht habe.” Ich hatte endlich einen Namen dafür. Schnell war die Website angepasst und innerhalb einer Woche hatte ich den ersten Auftrag.
Wie ist Ihr erster Auftrag gelaufen?
Ehrlich? Semioptimal. Ich war sehr aufgeregt und nervös, trotz meiner ganzen langjährigen Erfahrung als Trainer. Aber es ist ein Unterschied, ob man als Angestellter in einer Firma arbeitet oder selbständig ist. Dazu war es sehr heiß, der Seminar-Raum unter dem Dach war klein und es gab kaum Platz für die Visualisierung. Heute würde ich das ganz anders angehen. Dafür liegen da auch viele Jahre Erfahrung dazwischen. Heute kann ich viel flexibler mit unterschiedlichsten Situationen umgehen. Ich kenne die Stifte, das Papier, die Möglichkeiten.
Müssen Sie sich auf die Veranstaltung vorbereiten?
In der Regel nicht besonders viel. Ich brauche ein kurzes Briefing, um was es geht, was ist die Zielsetzung, wie sieht die Agenda aus, um besser das Recording planen zu können. Aber die Inhalte muss ich vorher nicht kennen. Wichtig ist für mich der Moment und das gesprochene Wort. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass die vorbereiteten Bilder nicht das sind, worüber der Vortragende dann wirklich spricht. Die einzigen Male, die ich mich wirklich umfassend vorbereiten musste, waren eine medizinische Tagung zu Krebsmedikamenten und eine Tagung über Quantenphysik.
Kennen Sie die Inhalte der Reden vorab?
Nein. Nur die Überschriften, wie jeder andere Tagungsteilnehmer auch. Ich lebe vom Zuhören, nicht so sehr vom Lesen der Folie. Einmal bekam ich vorab die Rede eines Politikers für die Vorbereitung, doch dann hatte er sich aus aktuellem Anlass zu einer anderen Rede entschlossen. Seitdem will ich gar nicht mehr im Detail wissen, was kommt. Es macht auch eher blind, für das, was wirklich passiert.
Wie machen Sie das? Zeichnen und Zuhören gleichzeitig.
Ganz einfach: zuhören, zuhören, zuhören und die Kernaussage filtern, Zusammenhänge erkennen und visualisieren. Ich gebe zu, das klingt ganz einfach, aber es braucht viel Erfahrung und geschieht mittlerweile intuitiv. Noch immer werde ich mit jedem Jahr besser. Wahrscheinlich hörte das auch nie auf. Es gehört auch eine Portion Mut zur Lücke dazu. Es ist eben kein perfektes Protokoll. Es ist ein visueller Schnappschuss und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Nur mit dem Stift in der Hand kann ich richtig gut denken.
Wolfgang Irber
Ist das eine Neigung von Ihnen?
Das kann ich ganz klar mit Ja beantworten. Schon in der Schule und an der Uni sahen meine Skripten sehr illustrativ aus. Ich brauche immer eine visuelle Struktur. Nur mit dem Stift in der Hand kann ich richtig gut denken.
Haben Sie schon immer gezeichnet?
Ja. Selbst in meinen frühesten Kindheitserinnerungen halte ich einen Stift in der Hand. Cartoons waren immer meine besondere Spezialität, schon in der Schule, aber ich wollte nie akademischer Maler oder klassischer Illustrator werden. Als Geologe musst ich viel zeichnen, damals gab es noch keine Computer, und in der Telekommunikation merkte ich, es ist besser PowerPoint wegzulassen und Zusammenhänge zu zeichnen. Das ist der rote Faden in meinem Leben.
Wie kommen Sie auf all die Ideen für die Illustrationen und die Cartoons?
Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Die kommen einfach. Das war schon immer so. Aber es ist anstrengend. Ich muss hoch konzentriert und aufmerksam sein. Ist es Talent? Vielleicht. Erfahrung? Vielleicht. So hat jeder seine Stärken. Ganz sicher ist es auch viel Übung.
Warum verwenden Sie so viele Cartoons?
Das ist eine Neigung von mir. Schon als Schüler habe ich viele Cartoons gezeichnet. Cartoons erzählen im Bild immer eine kleine Geschichte, die so mit Worten nicht möglich wäre. Gerne verwende ich dabei eine leicht ironisch-augenzwinkernde Perspektive. Und meine Erfahrung zeigt mir: die Cartoons werden immer besonders geliebt. Mit diesem Perspektivenwechsel werden wichtige Inhalte verstärkt im Publikum verankert. Oft werde ich von Personen besonders auf die Cartoons angesprochen. Auch noch Tage danach.
Haben Sie eine spezielle Symbolsprache?
Jein. Gewisse Visualisierungen verwende ich sicherlich immer wieder, aber ich will hier keinen Automatismus einziehen lassen. Das würde auch langweilig werden. Ich habe kein Bikablo auswendig gelernt, was ich auch oft gefragt werde. Ich entscheide die Visualisierung im Moment und intuitiv.
Ist das Live-Visualisieren anstrengend?
Ja. Sehr. Am Ende des Tages bin ich immer völlig erschöpft und möchte eigentlich mit niemandem mehr reden. Danach alleine beim Abendessen sitzen: reine Erholung für mich. Oft denke ich mir: wahrscheinlich war ich der einzige Teilnehmer der Veranstaltung, der zu 100% von Anfang bis Ende konzentriert zugehört hat.
Kann Graphic Recording jeder lernen?
Im Prinzip würde ich sagen ja. Es kann auch jeder ein Musikinstrument lernen. Reine Übungssache. Je mehr man übt, umso besser wird man. Noch etwas Talent dazu, und schon kann man es professionell betreiben. Das Schöne dabei ist, man hört nie auf zu lernen. Auch heute noch verändert sich mein Stil mit jedem Recording, das ich anfertige. Wenn ich bei Kollegen etwas sehe, das mir gefällt, probiere ich es immer aus.
Wie kann man Graphic Recording lernen?
Über Kurse und mit viel Übung. Mittlerweile gibt es ein großes Kursangebot von meinen Kolleginnen und Kollegen. Ansonsten empfehle ich immer, sich einen Podcast im Radio anzuhören und zu üben. Kritisch zu sich selbst zu sein und sich anschauen, was die anderen machen. Kriterien für gutes Graphic Recording habe ich in einem eigenen Menüpunkt auf dieser Seite zusammengestellt. Das ist schon mal ein guter Leitfaden für den Einstieg.
